Die Fernbedienung
Lois suchte in ihren Manteltaschen nach den Hausschlüsseln für ihr Haus in der Hyperion Avenue. Sie balancierte ihre zwei Einkaufstaschen, versuchte zu erkennen ob Post im Briefkasten war, musste ihren Sohn überreden, sich ein wenig zu beeilen und ihre Tochter dazu bringen, sich ihnen trotz ihrer schlechten Laune anzuschließen. Ein ganz gewöhnlicher Tag also.
Eigentlich war heute ein 'Clark-Tag'. Sie hatten ausgemacht, dass Clark die Kinder montags, mittwochs und freitags von der Schule abholte. Das waren zwar mehr Tage als für Lois, aber durch seinen 'Nebenjob' holte er die Kinder in Wirklichkeit an weniger Tagen ab als Lois. Wenn er es schaffte, gab er ihr per Handy Bescheid, hörte sie nichts von ihm, wusste sie, dass er wahrscheinlich in Thailand oder Südafrika unterwegs war und sie Sanna und Nici abholen musste. Dieses System funktionierte bestens und doch hatte es seine Tücken. An einem Mittwoch wussten die Kinder, sie bekämen etwas Richtiges zu essen. Wenn aber Lois einsprang, wurde nicht gekocht. Das was einer der Gründe für Sannas Laune, der andere war schlicht und ergreifend die Lebensphase, in der sie gerade steckte – beginnende Pubertät.
Lois konnte sie so gut verstehen. Für nichts auf der Welt würde sie wieder jung sein wollen, wenn sie die Pubertät noch einmal durchleben müsste – für den Fall, dass der Flaschengeist ihr das jemals anbieten würde.
Doch auch wenn sie noch so viel Verständnis für ihre Tochter hatte, sie machte es ihrem Umfeld nicht gerade leicht mit ihrem ständigen „Nein, will nicht!“ oder diesem „... weiß auch nicht...“
„Sanna! Kommst du bitte?! Heute noch! Kannst du mir nicht mal wenigstens eine Tüte abnehmen?!“ Wie konnte ein Mensch nur so viel Verachtung in einen Blick legen? Lois seufzte.
Während ihr Sohn Nici, nur ein Jahr jünger als seine große Schwester, verträumt vor sich hin schlenderte, kam Sanna näher. Aber sie kam Lois' Aufforderung, ihr eine Einkaufstüte abzunehmen, nicht nach, sondern nahm einfach nur schweigend ihren Hausschlüssel und öffnete gleich darauf die Tür. 'Wenigstens etwas! Nicht dass mir noch der ganze Einkauf über die Treppen kullert!', schickte Lois ein Stoßgebet zum Himmel.
Sie betraten ihr Heim; erst Nici, verträumt, ein wenig fern ab von dieser Welt, aber bester Dinge. Dann folgte Sanna, widerstrebend, rebellierend, ohne jedoch zu wissen, gegen wen sie ihre Rebellion richten sollte. Lois schnappte sich dann doch noch kurz die Post und folgte den beiden. Gleich hinter der Tür ließ sie die beiden Papiertüten vorsichtig zu Boden gleiten und legte die Post auf die Kommode, um ihren Mantel auszuziehen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Lois drehte sich herum, ließ ihren Blick durch den Raum gleiten und blieb am Wohnzimmertisch hängen. Augenblicklich wusste sie: 'Hier ist etwas faul!'
Es war die Fernbedienung – sie lag einfach auf dem Tisch.
Da lag sie sonst nie!
Zwei Dinge gab es in diesem Haushalt, die nie auffindbar waren, selbsttätig verschwanden und immer wie von Zauberhand, an den merkwürdigsten Stellen, wieder auftauchten: Das Telefon und die Fernbedienung des Fernsehers. Vier Menschen unter einem Dach, deren Interessen und Eigenarten kaum unterschiedlicher sein konnten. Und jeder von ihnen schien zu glauben, diese beiden Dinge überall hin verschleppen zu dürfen. Das Telefon war ja nicht so problematisch; mit der Paging-Funktion der Station war es relativ leicht auffindbar. Die Fernbedienung hatten sie dagegen schon an den unmöglichsten Stellen wieder gefunden, im Kühlschrank, auf der Waschmaschine, in der schmutzigen Wäsche, in einer Hemdtasche – und immer war es niemand gewesen.
Aber es gab einen Ort, an dem die Fernbedienung nie lag: Auf dem Wohnzimmertisch vor dem Fernseher.
Doch genau dort lag sie jetzt.
Erst nun fiel ihr auf, dass es mucksmäuschenstill war.
Mit klopfendem Herzen ließ sie ihren Blick weiter wandern. Lois erfasste die Situation: Hinter Sanna stand ein Mann von vielleicht vierzig Jahren; er war ziemlich hager, unrasiert und sein T-Shirt zeigte große Schweißflecken unter den Achseln. Er hielt Sanna ein großes Messer an den Hals und drückte sie an sich. Ihre Tochter sah sie mit großen Augen an. Flehend, fragend.
Ein zweiter Mann, der ungefähr das gleiche Alter haben musste, hielt ihren Sohn auf die gleiche Weise fest. Auch er drückte seiner Geisel ein großes Messer an den Hals. Der Mann war kleiner als der erste, aber dafür von kräftigem, gedrungenem Körperbau. Er grinste. Und dieses irre Grinsen machte Lois fast mehr Angst als die Messer. Ihr Sohn formte mit seinen Lippen ein ängstliches „Mom!“
In diesem Moment spürte sie an ihrem Hals etwas kaltes, scharfes. Natürlich sah sie es nicht, aber es würde genau so ein Messer sein, wie sie es vor sich sah. Der Mann, der sie bedrohte, musste recht groß sein, sie hörte seinen Atem ein ganzes Stück über ihrem Kopf und er roch unangenehm nach Schweiß und Bier.
All das registrierte Lois im Bruchteil einer Sekunde.
Ihre Gedanken überschlugen sich: Drei Männer, die alle bewaffnet waren, gegen sie drei. Sie hatten keine Chance. Niemand würde sie hören oder sehen von der Straße aus. Und Clark war aller Wahrscheinlichkeit nach am anderen Ende der Welt.
Was konnte sie tun?
Wenn sich nur einer von ihnen bewegte, würde das die beiden anderen in Gefahr bringen. Wäre Lois alleine in dieser Situation hätte sie alle Tea-Kwon-Do-Kenntnisse an diesen Kerlen ausgetobt, die sie je gelernt hatte. Aber jede unbedachte Aktion würde das Leben ihrer Kinder in Gefahr bringen.
Was konnte sie tun?
Die Frage, was die drei Kerle von ihnen wollten, machte Lois auch nicht zuversichtlicher. Ginge es den drei Männern nur um Einbruch und ein paar Wertgegenstände, so hätten sie die doch längst einpacken können und wären schon verschwunden. Und dann dieses Grinsen – es hatte etwas lüsternes...
„Hören Sie“, nahm Lois all ihren Mut zusammen, „wollen Sie Geld? Ich habe Kreditkarten und auch etwas Bargeld.“ Sie wunderte sich selbst, wie sicher ihre Stimme klang. Fast so, als versuchte sie den Obstverkäufer einen niedrigeren Preis abzuringen. „Ich geb es Ihnen – alles.“
Der große Mann hinter ihrem Rücken lachte ein höhnisches, tiefes Lachen.
„Sie können auch den Fernseher mitnehmen... und den DVD-Player – beides ganz neu“, setzte Lois schnell nach und versuchte dabei dieses Lachen zu ignorieren.
Was konnte sie den drei Männern noch anbieten? Wenn es nach ihr ging, könnten sie das ganze Haus ausräumen, alles mitnehmen, wenn sie nur ihre Kinder in Ruhe ließen. Aber wahrscheinlich hatten drei entflohene Sträflinge auf der Flucht – genau jetzt fiel ihr auch ein, dass sie im Radio tatsächlich von diesen entflohenen Schwerverbrechern gehört hatte – kein Interesse an einer neuen Waschmaschine.
Was konnte sie tun?
Das Grinsen des kleinen, dicken Mannes gefiel ihr gar nicht – und ihrem Sohn auch nicht. Er hatte Angst, war gelähmt vor Angst. Wie gerne hätte sie ihn in den Arm genommen, ihn getröstet, ihm gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Nici hatte so eine unbeschwerte Seele, glaubte immer an das Gute im Menschen. Welche Lektion würde er heute noch lernen müssen?
Lois merkte, dass sie nur noch ganz flach atmete. Ihr Herz schlug dafür umso heftiger. „Mister...“, sie drehte sich eine Spur zu ihrem Peiniger, damit er wusste, dass sie ihn ansprach, „lassen Sie bitte die Kinder gehen. Sie werden nichts sagen. Mit mir können Sie machen was sie wollen – aber lassen Sie die Kinder gehen. Bitte!“ Was konnte sie anderes tun, als zu flehen?
Sanna warf ihr einen stummen Blick zu, riss ihre Augen noch ein Stück weiter auf, wenn das denn möglich war. Sie versuchte still mit Lois zu kommunizieren. Lois hätte sie so gerne aus dieser Situation heraus geholt. Ihr diese Angst erspart – und sonst noch was...
Der Mann hinter ihr hauchte Lois seinen Bieratem in den Nacken und fragte sie: „Warum sollten wir uns mit einem Sahnestückchen zufrieden geben, wenn wir drei haben können – hm?“
Es ging diesen Männern weder um Wertgegenstände noch um Geld. Nun wurde Lois schlecht. 'Wenn einer von euch Dreckskerlen meine Tochter anfasst, dann...' – aber der Mann hinter ihr, würde sie töten. Was passierte dann mit Nici? Und wenn sich dieser dicke Kerl an Nici verging...
Das, was dann passierte, brauchte in Wirklichkeit nur wenige Sekunden, doch Lois nahm es wie in Zeitlupe wahr. Sanna schrie laut: „LOS! NICI!“ Gleichzeitig rammte sie ihrem Widersacher ihren Ellenbogen in die Magengegend. Ihre andere Faust landete in seinem Gesicht. Erstaunt sackte er ohne Gegenwehr zusammen und krümmte sich vor Schmerzen.
Ihr kleiner Bruder folgte Sannas Anfeuerung augenblicklich und drehte sich zu seinem Geiselnehmer herum. Nici sprang hoch, unglaublich hoch, schwebte fast einen Moment in der Luft und trat den Mann dann mehrmals in den Bauch, ins Gesicht, gegen die Brust, einfach überall hin. Seine Füße flogen nur so. Auch dieser Mann sackte einfach zusammen.
Lois tat es ihren Kindern gleich, auch wenn sie befürchtete, dass sie gegen diesen Goliath nichts ausrichten würden. Aber es war besser, als einfach nur zusehen. Der Mann, der sie bedrohte, war kräftig. Er hielt sie fest an sich gedrückt. Sie konnte mit ihren Ellenbogen kaum etwas ausrichten. Auch hatte sie wirklich Respekt vor der Waffe an ihrem Hals. Jeden Moment rechnete sie mit einem schneidenden Schmerz. Doch Sanna sprang ihr zur Hilfe. Sie griff mit ihren Fingern einfach in die Klinge und brach das Messer in zwei Teile. Sie hätte sich eigentlich schneiden müssen. Konnte das sein? Was...? Das war... das musste Superkraft sein. Seit wann hatten die Kinder solche Kraft? Lois' Gedanken überschlugen sich.
Sanna schlug noch ein paar Mal nach dem Mann, dann brach auch dieser einfach zusammen und rührte sich nicht mehr.
Das alles dauerte nur wenige Sekunden.
Vollkommen von Sinnen umarmte Lois Sanna und Nici. „Sanna, bist du okay? Ist alles in Ordnung? Bist du verletzt? Nici, geht es dir gut? Hast du dir weh getan? Wie geht es dir? Sag doch was!“ Sie drückte die beiden immer wieder an sich und strich ihnen über die Schulter, das Gesicht. Fast so, als wollte sie sich versichern, dass sie diesen Kampf wirklich überstanden – wirklich überlebt hatten.
Lois hielt inne und sah die beiden ernst an. „Seit wann könnt ihr das?“
Ihre Tochter schien sich ertappt zu fühlen. Verlegen blickte sie an ihre Mutter vorbei. „Ich... ich wusste nicht, dass ich sooo stark bin.“
Nici dagegen hatte zu seinem unbekümmerten Wesen zurück gefunden. Begeistert plapperte er los: „Mom, hast du gesehen, wie der einfach zusammen gebrochen ist? Ich habe nur ein bisschen getreten – dachte ich. Aber es war, als würde ich eine Fliege wegschnippen – einfach so. War ganz leicht...“
„Mom – haben wir zu stark zugeschlagen?“ Sanna schien diese Frage wirklich zu bedrücken. Wahrscheinlich hatte sie sich bis jetzt nie klar gemacht, was für eine Macht sie hatte. Was für eine Macht ihnen ihr Vater gegeben hatte. Wie auch, sie hatten doch noch nie darüber gesprochen.
Lois sah noch einmal auf die drei Kerle, die immer noch regungslos am Boden lagen. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, was ihnen bevor gestanden hätte, wenn Nici und Sanna nicht die Kinder Supermans wären, wenn sie nicht Superkräfte hatten, wenn sie sich nicht hätten wehren können. „Nein“, sagte sie also ganz ermutigend zu ihrer Tochter, „die haben es nicht besser verdient.“
~ * ~ * ~
Inspektor Hunter saß Lois und Clark auf ihrem Sofa gegenüber. Gemeinsam hatten sie Hunter klar machen können, dass die Kinder für eine Aussage nicht zur Verfügung stünden. „Mrs. Lane, Sie haben wirklich unglaubliches Glück gehabt, dass sie die drei 'Beagle Boys' erledigen konnten... Wie haben Sie das nur gemacht? Die drei sind für ihre Brutalität bekannt.“
Den Satz 'Sie sind schließlich nur eine Frau und zwei kleine Kinder' sprach er nicht aus, aber Lois war sich sicher, dass er genau so dachte. Inspektor Hunter hatte seine besten Jahre sicher schon hinter sich, er schob einen kräftigen Bierbauch vor sich her, auf seiner Stirnglatze standen kleine Schweißperlen und so war er bei der Verbrecherjagt sicher eher ein Hemmschuh. Aber 'Glück'... dieses Wort irritierte Lois für einen Moment. Doch was sollte sie sagen? Ihr war klar war, dass sie die Wahrheit schon ein wenig biegen musste.
Bevor sie jedoch etwas Unüberlegtes zu Protokoll geben konnte, sprang Clark sehr souverän ein: „Nun, Inspektor Hunter, meine Frau hat den zweiten Dan im Tea-Kwon-Do“, sagte er nicht ohne Stolz, was Lois wirklich rührte, „und sie hat unsere Kindern schon früh in dieser Kampftechnik unterwiesen. Das hat ihr schon mehr als einmal das Leben gerettet. In der heutigen Zeit muss eine Frau sich schließlich zur Wehr setzen können, gerade in unserem Beruf.“
Hunter sah sie anerkennend an. Als Polizist sagte ihm zweiter Dan natürlich etwas. Lois meinte in seinem Blick eine Spur von Bewunderung zu erkennen. Nach einem kurzen Moment fuhr Inspektor Hunter fort: „Nun, die Ärzte im Krankenhaus meinten Bills Knie sei so zertrümmert, dass er wohl nie wieder laufen wird. Mark hat einen Schädelbasisbruch und Joe eine sehr ernst zu nehmende Wirbelsäulenverletzung. Also, Mrs. Lane, ich möchte Ihnen niemals nachts auf der Straße begegnen... Einmal nach der Uhrzeit gefragt und schon bin ich erledigt...“ Er lachte über seinen eigenen Witz. Sagte ihnen dann aber auch noch, dass es sicher keinen Menschen gab, der ihnen ihr Vorgehen gegen die Beagle Boys vorwerfen würde.
Dann verließ der Polizist endlich ihr Haus. Das bot Lois die Möglichkeit endlich mal ein ungestörtes Wort mit Clark zu reden.
Erst nahm er sie nur ganz fest in den Arm. „Mir wird jetzt noch ganz anders... Lois, ich hätte mir das nie verziehen...“
Sie schmiegte sich an ihn. „Ja, aber wir wissen uns durchaus zu wehren, ganz besonders die beiden. Aber“, sie sah ihn an, „du musst mit ihnen reden, ihnen helfen, ihnen zeigen, wie sie damit umgehen müssen. Sie haben Fragen und es macht ihnen vielleicht sogar ein wenig Angst.“
„Ja natürlich“ Clark nickte. „Sie haben also wirklich meine Kräfte geerbt.“
„Offenbar...“ Es würde sicher eine ganz neue Welt für Clark, wenn er nicht mehr der einzige Superman auf der Welt wäre – da kam eine wirklich interessante Phase auf sie alle zu. Immer etwas neues – ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben von Lane und Kent also...
ENDEStatistik: Verfasst von Magss — Mo 15. Nov 2010, 10:47
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