Teil 6
Metropolis, eine Straße auf dem Weg zum Daily Planet, ein bisschen später an diesem Morgen
Das Tageslicht weckte nicht mehr Erinnerungen, als die Dunkelheit. Clark war davon nicht mehr wirklich überrascht. Trotzdem fühlte er die Enttäuschung, denn er war der ganzen Geheimnisse die sein Leben umgaben schon überdrüssig geworden. Aber er hatte auch Angst vor dem, was er finden würde, wenn er erst genug Zeit hatte, sich sein Leben genauer zu betrachten. So, wie es im Moment aussah, war es schon seltsam genug und Clark wusste nicht, ob er mehr ertragen konnte. Tatsächlich war er kurz davor Lois zu erzählen, was mit ihm los war, auch wenn er sich nicht gerade darauf freute. Er war sich beinahe sicher, dass sie verstehen würde, wie verängstigt er war. Aber sich beinahe sicher zu sein, reichte nicht aus um den Mut zu finden die Worte endlich auszusprechen.
Während er nach etwas Ausschau hielt, dass ihm bekannt vorkam, beobachtete Clark die Menschen auf der Straße. Einige Menschen standen in Gruppen beieinander und hielten sich bei den Händen. Kleine Bilder von Superman, der nur an den bunten Farben seines Kostüms zu erkennen war, standen an vielen Straßenecken. Kleine Schwarze Bänder, die um eine Ecke geschlungen waren, zierten die meisten. Vor den Bildern waren Blumen und Kerzen aufgestellt. Die Menschen betrauerten den Tod ihres Helden.
Andere liefen durch die Straßen und hatten die Köpfe eingezogen. Es schien als erwarteten sie, dass die Welt auseinander fallen würde, nun da Superman nicht mehr da war. Alles kam ihm ein wenig dunkler und verhangener vor, obwohl Clark nicht hätte sagen können warum. Schließlich konnte er sich an keinen Tag erinnern, mit dem er diesen hätte vergleichen können.
„Es ist gespenstisch“, murmelte Lois angespannt und warf einen kurzen Blick zu Clark hinüber. „Ich habe die Bewohner von Metropolis noch nie so angsterfüllt gesehen. Sie schauen sich um, als ob sie jeden Moment jemand erschlagen würde.“
„Alles wegen Superman“, sagte Clark und irgendwie gelang es ihm, etwas weniger ungläubig zu klingen, als er in Wirklichkeit war.
Er biss sich auf die Lippen, denn je mehr er sagte, desto wahrscheinlicher verriet er seine Unwissenheit. Oder sollte er seine Tarnung aufgeben und ihr endlich alles erzählen? Lois verdiente es die Wahrheit zu erfahren, immerhin hatte sie ihn gerettet und ihm geholfen. Auch wenn es ihm nicht gelungen war, Supermans Tod zu verhindern, ohne sie wäre es vielleicht noch schlimmer gekommen. Und er würde ihr auch alles erzählen, so bald wie nur möglich.
Sie verdiente das, weil sie dafür gesorgt hatte, dass dieser Tag zu wundervoll begonnen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass etwas angenehmer sein konnte, als von dieser Frau wach geküsst zu werden. Sie war der erste Mensch, der ihn je angelächelt hatte. Das mochte objektiv gesehen nicht stimmen, aber für ihn war es so.
Wie er es auch betrachtete, es gab keinen vernünftigen Grund ihr die Wahrheit zu verschweigen. Er konnte Lois nicht in die Augen sehen, weil er wusste, das er nicht ehrlich zu ihr war. Und es wurde immer schwieriger für ihn sich selbst weiszumachen, dass es nichts mit Lügen zu tun hatte gewisse Dinge für sich zu behalten. Er würde es ihr erzählen, doch solange sie fuhr, sollte er besser nicht mit solchen Geständnissen kommen. Also beschloss Clark noch zu warten. Lois hingegen hatte nicht die Absicht zu schweigen.
„Ich verstehe es einfach nicht“, rief sie aus. „Ich meine, ich weiß, dass Superman viele Feinde hatte. Aber warum hätte ihn jemand töten sollen? Er war der Inbegriff der Güte...“ Ihr versagte die Stimme und eine Träne rollte über ihre Wangen. Verstohlen wischte sie sie weg, doch Clark hatte sie trotzdem gesehen. „Und er hat jeden Kriminellen aufgehalten, dessen er habhaft werden konnte“, fügte sie leise hinzu. „Ich argumentiere nicht sehr vernünftig, oder?“
Clark lächelte schwach und voller Mitgefühl. Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein, tust du nicht, aber das ist glaube ich völlig normal.“ Wieder machte er sich klar, dass er Lois die Wahrheit nicht nur erzählen sollte, sondern musste. Wie sollte er denn der Frau helfen, die er doch angeblich liebte, wenn er nicht einmal wusste, was eigentlich los war und um wen sie trauerte? „Ich bin auch nicht ganz ich selbst“, murmelte er verhalten. Lois schien ihn nicht gehört zu haben.
Sie parkte den Wagen an der Seite eines großen Gebäudes, dass der Daily Planet sein musste. Clark schluckte, als er auf einmal eine unerwartete Hitze in sich aufsteigen fühlte, die ihn zu verzehren drohte. Sein Blick wanderte hinunter zu seinen Knien. Lois’ Hand ruhte verführerisch nah an seinem... Nein, darüber würde er jetzt nicht nachdenken, sonst würde er sich noch lächerlich machen und das war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Er balancierte längst auf Messers Schneide und er hatte kein Verlangen danach abzurutschen.
‚Konzentrier dich’, tadelte er sich wortlos. Aber das war gar nicht so einfach, denn Lois hatte begonnen sanft über sein Bein zu streicheln und Clark fiel es zunehmend schwerer gleichmäßig zu atmen. Verzweifelt fragte sich Clark, ob Lois wusste, dass sie mit dem Feuer spielte. Er versuchte weiter sich auf das Gespräch zu konzentrieren, doch Lois hatte offenbar keine Lust mehr sich zu unterhalten.
„Ich bin so froh, dass ich dich wieder habe“, sagte sie und hauchte einen zärtlichen Kuss auf seine Wange.
Die sanfte Berührung war süß und unschuldig. Kein Passant hätte ahnen können, dass darin ein stilles Versprechen lag, ein Vorgeschmack auf mehr, viel mehr. Clark hatte das Gefühl, dass seine Wangen längst die Farbe einer reifen Aubergine angenommen hatten. Er schluckte erneut, als er ihre Finger über sein Gesicht streifen fühlte, die ihn sanft dazu brachten, sie anzusehen. Liebevoll blickte Lois ihn an und wenn sein Herz nicht bereits so schnell geschlagen hätte, wie es nur konnte, dann wäre es spätestens in diesem Moment so weit gewesen.
„So froh...“, murmelte sie und beugte sich ein wenig vor.
Der Abstand zwischen ihren Lippen schrumpfte rasch zusammen. Clark fragte sich einen Augenblick lang, wie es möglich war, dass er aus der traurigen Stadt an diesen märchenhaften Ort katapultiert worden war. Aber wer auch immer ihn hierher gebracht hatte, verdiente seinen tiefen Dank. Als ihre Lippen die seinen berührten, rann ein wohliger Schauer seinen Rücken hinunter. Ihre Zunge schnellte sanft hervor, liebkoste seine kurz. Die Begegnung war rasch vorbei, nicht jedoch das Verlangen, dass sie in ihm geweckt hatte. Er sehnte sich nach mehr, doch Lois zog sich zurück und blickte schüchtern zu Boden. Clark verstand sie. Sie waren in der Öffentlichkeit und hier war einfach kein Raum für leidenschaftliche Küsse.
Doch da war noch etwas anderes in ihrem Blick, das er nicht recht einordnen konnte. Etwas in ihren Augen schien ihn anzuflehen ihr zu versichern, dass er genauso fühlte wie sie, dass es wirklich geschah. Doch Clark schob den Gedanken beiseite. Sein leerer Kopf musste ihm streiche spielen, denn warum sollte eine Frau einen Mann so küssen, wenn sie befürchten musste, dass die Gefühle einseitig waren? Warum sollte eine Frau wie Lois an seiner Liebe zweifeln? Kein Mann, der noch bei Verstand war, wäre in der Lage ihr zu widerstehen. Clark wünschte sich an einen anderen Ort. Er wollte ihr so gerne zeigen, wie sehr er sie begehrte. Mit einem Seufzen stellte er fest, dass Lois schon dabei war aus dem Wagen zu steigen. Wie sollte er nur den Tag überleben, wenn er ständig von Erinnerung an einen solchen Kuss heimgesucht wurde?
Clark stieg ebenfalls aus dem Wagen und hoffte, dass seine Beine noch ihren Dienst tun würden, nachdem Lois’ Berührung sie wirkungsvoll in Wackelpudding verwandelt hatte. Er wusste nicht, ob es ihm gelingen würde bei Verstand zu bleiben, wenn Lois so weiter machte. Jeder Blick von ihr würde ihn nur an diesen Morgen erinnern. Wie war er nur früher damit klar gekommen? Wenn es stimmte, was Lois ihm gesagt hatte, dann arbeiteten sie als Partner. Er musste schon eine ziemliche Selbstbeherrschung besessen haben, denn als Partner musste er zumindest einen Teil der Arbeit erledigt haben. Das war schon ein Wunder, denn im Augenblick war es schon schwer genug auch nur gedanklich bei der Sache zu bleiben.
* * *
Italien, eine Straße in der Toscana, am späten Nachmittag
„Irgendwo muss doch ein Dorf sein!“ brummelte Jonathan ungeduldig und fuhr weiter. Hin und wieder hatte er Probleme mit der Gangschaltung des Mietwagens, an die er sich immer noch nicht richtig gewöhnt hatte. Dass er sehnsüchtig auf ein Schild wartete, dass ihn zu einem öffentlichen Fernsprecher führte, machte die Sache nicht einfacher. Und außer Weinbergen und endlosen Feldern gab es rein gar nichts, das ihm hätte helfen können.
Die Straße war kurvenreich und die Sonne blendete ihn, als sie sich immer weiter dem Horizont näherte. Es war noch nicht spät, doch die Tage wurden langsam kürzer. Alles um sie herum schimmerte in dem sanften, honiggoldenen Licht und die Hügel glühten in der Abendsonne. Der endlose Himmel war tiefblau. In einem ruhigeren Augenblick hätten Martha und Jonathan den Anblick sicher genossen und sich an der Schönheit dieses italienischen Landstrichs erfreut. Die Toscana hatte sie fasziniert, seit sie die Bilder im Reiseführer entdeckt hatten.
Martha sah kurz auf die Uhr, die anzeigte, dass es endlich spät genug war, um in Metropolis anzurufen. Sie konnte sich nicht erinnern ihren Mann jemals so nervös gesehen zu haben und sie musste zugeben, dass seine Angst ansteckend war. Die Jahre, in denen sie sich keine Sorgen um die Gesundheit ihres Sohnes gemacht hatten, waren vorbei. Die Kriminellen von Metropolis schienen eine geheime Quelle für all die Dinge zu haben, die ihrem Sohn schaden konnten, wie Kryptonit oder dieses seltsame Schallgerät. Außerdem hatten sie feststellen müssen, dass Kugeln zwar Superman nichts anhaben konnten, Clark Kent jedoch schon.
Martha versuchte sich auf ihre innere Stimme zu konzentrieren, die ihr sagte, dass es Clark gut ging. Aber das bloße Gefühl, dass ihm nichts Schlimmes geschehen war, reichte nicht länger um sie zu überzeugen. Genau wie Jonathan begann sie nach einer Telefonzelle oder etwas Ähnlichem Ausschau zu halten. Beinahe bereute sie, dass sie an diesem Morgen das Hotel verlassen hatten, auch wenn sie sich auf diesen Teil der Route schon seit Tagen gefreut hatte.
Mit einem tiefen Atemzug brachte Martha sich wieder dazu der Landschaft Beachtung zu schenken. Sie sah die Weinberge zu beiden Seiten der Straße. Die Ernte war vorüber und das Weinlaub hatte begonnen seine Farbe zu verändern. Hin und wieder schmiegte sich ein Winzergut zwischen die Felder. Die meisten sahen wesentlich beeindruckender aus, als ihr Farmhaus, allerdings auch weniger gemütlich. Es dauerte nicht lange und sie musste wieder an Clark denken.
Die Zeit schien sich endlos auszudehnen, bis sie schließlich ein Dorf erreichten. Sofort verspürte Martha Angst bei der Vorstellung, dass es keine Möglichkeit geben würde ihren Sohn anzurufen. Und was, wenn er wieder nicht abnahm, was wenn der Anrufbeantworter immer noch keine Nachrichten aufzeichnen konnte, weil er so überfüllt war?
* * *
Metropolis, Daily Planet Gebäude, ein paar Minuten, nachdem Lois einen Parkplatz gefunden hat
Jedes Fenster des Gebäudes zeigte Clark das Logo des Daily Planet. Es dauerte nicht lange und er stand unter dem echten Globus, der mächtig über dem Eingang des Redaktionsgebäudes prangte. Sein Anblick schien wie ein stilles Versprechen dafür, die Welt verändern zu können, wenn er nur durch die Türen gehen würde. Doch Clark war nicht nur fasziniert, er hatte auch Angst vor dem, was ihn dort drinnen erwarten würde. Unter dem Globus kam er sich klein und unbedeutend vor, er schüchterte ihn beinahe ein. Trotzdem fühlte er sich deswegen nicht unwohl. Erst als Lois ihm ungeduldig bedeutete ihr zu folgen, gelang es Clark, den Bann zu brechen, der unwillkürlich über ihn gekommen war. Er ging Lois hinterher, als sei nichts gewesen.
Sie durchquerte die Halle schnellen Schrittes, so dass Clark Mühe hatte mitzuhalten. Er kam sich ein bisschen so vor, als sei er ein Kleinkind, das von seiner Mutter durch einen Spielzeugladen gezerrt wurde. Er wollte sich so gerne umsehen, doch dafür war keine Zeit. Obwohl Clark wusste, dass er dieses Gebäude nicht zum ersten Mal sah, kam es ihm dennoch so vor. Als sie vor dem Fahrstuhl warten mussten, gelang es Clark endlich zumindest einen Eindruck zu gewinnen. Viele Menschen rannten hektisch umher. Ein paar grüßten Clark mit einem Nicken und lächelten schwach. Clark erwiderte die Grüße, bis schließlich Lois ihn packte und mit sich in den Fahrstuhl zog.
„Schläfst du?“ rief sie ungeduldig. „Oder bist du gerade dabei diesen abwesenden Blick zu bekommen?“
Ihr Tonfall sagte Clark, dass sie über keine der beiden Möglichkeiten besonders erfreut wäre. Irgendwie schien es ihm aber, als ob Lois für letzteres noch weniger Verständnis haben würde, als wenn er am helllichten Tag einschliefe. Wieder einmal hatte er keinen Schimmer, wovon sie genau sprach. Vielleicht sollte er sie einfach fragen. Doch er konnte ihr nicht einfach so alles gestehen, wenn so viele Leute um sie herum zuhörten.
„Abwesender Blick?“ murmelte er, als sich die Fahrstuhltüren schlossen.
„Ja, dieser Blick, den du immer bekommst, wenn du dich plötzlich daran erinnerst, dass du noch ein Video zurückbringen oder die Katze deiner Nachbarin füttern musst. Was immer du halt tust, wenn du mal wieder wegrennst.“
Sie klang ungeduldig, als würden sie sich nicht das erste Mal über dieses Thema unterhalten. Die Ausreden, die sie erwähnt hatte, waren so schlecht, dass sie entweder stimmten oder aber von seinen unterirdischen Lügen zeugten. Clark befürchtete, dass eher das letztere der Fall war. Aber wohin verschwand er, wenn er Lois allein ließ? Und – falls er einen guten Grund dafür hatte zu verschwinden – was geschah nun, da er bei ihr blieb? Clark konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass es in eine Katastrophe münden würde. Welche unglaublich wichtigen Aufgaben sollte selbst ein so seltsamer Mann wie er haben, über die er nicht mit seiner Partnerin sprechen konnte? Doch was, wenn es diese Aufgaben doch gab? Wie sollte er wissen, wann er den abwesenden Blick bekommen und sich entschuldigen musste? Und wohin sollte er dann gehen?
Clark wollte sich lieber damit abfinden, dass er sehr vergesslich war. Ein nicht zurückgegebenes Video bedeutete nicht das Ende der Welt. Er hoffte nur, dass keine hungrige Katze nun vergebens auf ihn wartete. Clark sagte lieber nichts. Als die Fahrstuhltüren sich wieder öffneten war jeder Versuch einer Diskussion mit Lois sowieso unmöglich geworden. In der Redaktion herrschte ein so geschäftiges Treiben, dass Clark am liebsten wieder gegangen wäre. Die Leute liefen scheinbar ziellos umher. Doch dieser Eindruck musste falsch sein, denn bei genauerer Betrachtung kam Clark die Bewegung mehr wie die einer Ameisenkolonie vor. Und tatsächlich, sobald Lois aus dem Fahrstuhl getreten war und begann, die Rampe hinunterzueilen, wurde sie ein Teil des Gewusels. Ein wenig verwirrt blieb Clark bei den Aufzügen stehen. Er war die einzige Ameise im ganzen Haufen, die keine Ahnung hatte, worin ihre Aufgabe bestehen sollte.
* * *
Die Redaktion war lauter, als Lois sie jemals erlebt hatte. Die tödliche Stille, die während Jimmys Anruf geherrscht hatte, war ganz offensichtlich verschwunden. Der Mittag näherte sich schnell und Perry hatte sicherlich jeden mit einem anderen Beitrag zum Thema Superman beauftragt. Lois wusste, dass Perry etwas in der Hinterhand haben wollte, unabhängig davon welchen Ausgang die Pressekonferenz nehmen würde. Schließlich konnte noch niemand sicher sein, dass Superman tatsächlich tot war. Perry würde es nicht riskieren von einem vielleicht noch lebenden Helden überrascht zu werden. Er würde einen Nachruf schreiben lassen, aber ebenso auch einen Artikel, der die Nachricht vom Tod des Helden als bedauerliches Missverständnis beschrieb. Welche Artikel in den Druck kamen, würde der Chefredakteur entscheiden, sobald die Pressekonferenz vorbei war.
Lois konnte nur raten, was sonst noch geschrieben wurde. Ein paar ihrer Kollegen waren sicherlich mit eher alltäglichen Nachrichten wie beispielsweise Sport befasst. Doch das würde bestimmt nicht den Löwenanteil der Abendausgabe ausmachen. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen der Daily Planet eine Abendausgabe herausbrachte, weil jede wichtige Zeitung in Metropolis eine haben würde. Lois konnte sich kaum vorstellen, welchen Stress das für Perry bedeutete. Ohne Zweifel würde es dennoch aussehen, als sei es für ihn ein Kinderspiel mit solch weltbewegenden Nachrichten umzugehen. Aber es war und blieb ein harter Job.
„Lane, in mein Büro, sofort!“ brüllte Perry durch die Redaktion.
Sofort wurde Lois klar, dass sie falsch gelegen hatte. Sogar der unerschütterliche Perry White war nervös. Und es war nicht die Art Nervosität, mit der er gelegentlich grüne Reporter in die Irre führte. Einen Augenblick lang wunderte sich Lois, warum Perry nur sie gerufen hatte, doch dann wurde ihr klar, dass er noch nichts über Clarks Rückkehr wusste. Perry, der alles sah und noch viel mehr wusste, hatte keine Ahnung, dass sein Traumduo wieder vollständig war. Er musste sehr damit beschäftigt sein, diese Ausgabe nach den Werten des Daily Planet zu gestalten. Perry wollte etwas bringen, dass die weniger seriösen Zeitungen von Metropolis unmöglich liefern konnten – eine ausgewogene und vertrauenswürdige Berichterstattung über Supermans Tod. Wenn sie ehrlich war, hatte auch Lois keine Ahnung, wie die Reporter den Anforderungen des Daily Planet genüge tun sollten. Wie sollte selbst der beste Reporter über den Tod dieses Helden schreiben ohne dabei in ein emotionales Chaos zu geraten?
Lois blickte zu Clark zurück, der immer noch wie angewurzelt auf der Galerie vor den Aufzügen stand. Er sah nicht so aus, als hätte er Perrys Ruf gehört, auch wenn er dafür entweder taub oder tot hätte sein müssen. Ungeduldig wollte sie ihm zurufen, dass er endlich herunter kommen sollte, doch dann fragte sie sich, ob er vielleicht Schmerzen hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie an diesem Morgen nicht nach der Schnittwunde geschaut hatte. Das war nicht gut. Sie hätte sich mehr Zeit nehmen sollen, vor allem da sie ihn nicht dazu gebracht hatte zu einem Arzt zu gehen. Lois holte tief Luft um ihre Ungeduld zu bezwingen.
„Clark?“ fragte sie erst und rief seinen Namen dann noch einmal lauter, als sie bemerkte, dass er sie über all den Lärm in der Redaktion nicht hören konnte. „Geht es dir gut?“
„Ja“, gab Clark zurück und nickte noch einmal, wie um seine Aussage zu bekräftigen. Etwas irritiert blickte er sie an. Ihre Frage hatte ihn offensichtlich überrascht. Lois bedeutete ihm mit einem Winken herunterzukommen.
„Perry möchte uns sprechen“, sagte sie, als er näher kam. „Hast du ihn nicht gehört?“ fügte sie neugierig hinzu und hoffte, dass er vielleicht endlich sagen würde, was eigentlich mit ihm los war.
Clark zuckte sichtlich zusammen und schaute betreten drein, als hätte sie ihn auf frischer Tat ertappt. Das ergab keinen Sinn, immerhin war es doch kein Verbrechen abgelenkt zu sein. Oder etwa doch? Lois konnte sich nicht helfen, ihr Eindruck, dass Clark sich äußerst merkwürdig benahm, verstärkte sich nur. Etwas stimmte nicht mit ihm und Lois war entschlossen herauszufinden was los war, mochte er sich auch noch so sehr wehren.
Währenddessen ging Clark die Rampe hinunter. Sein Gesicht war rot angelaufen, als ob ihm etwas sehr peinlich wäre, was Lois wiederum gar nicht verstand. Sie wartete nicht darauf, dass er aufschloss, sondern durchquerte die Redaktion auf dem Weg zum Büro des Chefredakteurs. Clark würde ihr schon folgen. Perry sollte nicht denken, dass sie ihn absichtlich warten ließen. Er sah sowieso schon so aus, als stünde er kurz vor der Explosion. Lois hatte nicht Absicht diejenige zu sein, die die Bombe zündete.
Es war nicht ganz einfach sich einen Weg durch die vielen Kollegen zu bahnen. Doch Lois schaffte es, wie sie es schon früher geschafft hatte. Allerdings war es nie zuvor so hektisch zugegangen. Ein paar ihrer Kollegen nickten ihr abwesend zu, während sie ein hastiges Telefongespräch führten, immer in der Hoffnung mehr Informationen über die Ereignisse der vergangenen Nacht zu bekommen.
„CK!“ rief eine wohl bekannte Stimme, so laut, dass jeder es hören konnte.
Und plötzlich geschah, was Lois für unmöglich gehalten hatte. Die unablässige Bewegung erstarrte, als hätte jemand die Zeit angehalten. Buchstäblich jeder starrte Clark mit offenem Mund an. Es war so still, dass man die sprichwörtliche Nadel hätte fallen hören können. Der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aber blickte sich verwirrt um, bis Jimmy sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte und seinen verblüfften Freund umarmte.
„CK, wo bist du gewesen? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Keiner wusste, ob dir etwas zugestoßen ist. Geht es dir gut?“ fragte Jimmy besorgt und offenbar glücklich darüber, dass Clark wieder da war. Lois konnte es ihm nachfühlen.
„Bei allen Songs von Elvis! Clark?“ rief nun auch Perry verblüfft und näherte sich dem Aufruhr. Er lächelte breit und schien für einen Moment den drohenden Redaktionsschluss vergessen zu haben. „Gut dich wieder bei uns zu haben, Junge. Wir haben dich sehr vermisst. Wo in Elvis Namen bist du gewesen?“
* * *
„Ich...“, murmelte Clark unsicher und versuchte sich eine passende Erklärung für seine Abwesenheit auszudenken. Doch Perry, der seinen sentimentalen Moment längst überwunden hatte, blickte sich schon ärgerlich um und klatschte in die Hände.
„Was ist denn? Habt ihr noch nie einen Reporter in einer Redaktion gesehen? Auf geht’s, macht euch an die Arbeit. Eine Abendausgabe wird nicht ohne Grund so genannt!“ unterbrach Perry ihn, offensichtlich nicht geneigt zu warten, bis Clark eine passende Lüge gefunden hatte. „Und ihr beiden, kommt mit in mein Büro, jetzt!“ sagte Perry und konnte sich den Befehlston nicht völlig verkneifen.
Clark wusste nicht wirklich, wie ihm geschah. Trotz Perrys klarer Anweisung standen immer noch eine Menge Leute um ihn herum und erwarteten offenbar, dass er eine Rede hielt. Alle schienen auf seine Erklärung gespannt zu sein, vor allem der junge Mann, der ihn so begeistert umarmt hatte. Noch grinste er ihn breit an, doch sein Lächeln war schon dabei schwächer zu werden. Bald würde Verwirrung an seine Stelle treten, weil Clark nicht so reagiert hatte, wie es von einem Freund zu erwarten war. Er kannte nicht einmal den Namen des jungen Mannes, von seinem eigenen mal ganz zu schweigen. Clark hatte nicht darüber nachgedacht, dass er mit Seakay gemeint sein könnte. Vielleicht war das ja sein Nachname? Clark Seakay? Es klang nicht vertraut, aber das war im Augenblick wirklich nichts Ungewöhnliches.
„Habt ihr Perry nicht gehört?“ fragte Lois und drängte ihre Kollegen wild gestikulierend zurück an die Arbeit zu gehen. Einer nach dem anderen gab ein verärgertes und enttäuschtes Grunzen von sich, aber dann zogen sie von dannen, um die Jagd nach der Wahrheit wieder aufzunehmen.
Clark war dankbar, als Lois ihn rettete. Sie gab ihm einen sanften Stoß in Richtung Perrys Büro und murmelte, dass der Chefredakteur nicht gerade die Geduld in Person war. Clark dachte, dass Lois sicher überrascht wäre, wenn sie wüsste, wie viel er ihr schuldete. Er schwor sich es wieder gut zu machen. Nun musste er nur noch Perry glauben machen, dass mit ihm alles in Ordnung war. Das würde gewiss keine einfache Aufgabe werden. Es war wirklich besser, wenn er endlich Lois reinen Wein einschenkte. Der richtige Augenblick war längst gekommen. Aber sie hatte Recht, ihr Chefredakteur wartete schon, also musste auch Clark sich gedulden.
Wenig später schloss Clark die Tür des Büros hinter sich. Er musste zugeben, dass es ihn nervös machte Perry gegenüber zu stehen, der ihm durchdringend musterte. Clark wäre nicht überrascht gewesen, wenn jemand ihm erzählt hätte, dass der Chef Gedanken lesen konnte. Es schien absolut möglich. Doch hätte Perry angesichts der vielen leeren Seiten in seinem Gedächtnis wahrscheinlich nicht nur die Stirn gerunzelt.
„Wo bist du gewesen, Clark?“ fragte er noch einmal und wartete diesmal auf eine Antwort.
„Ich habe ihn am Rand von Suicide Slum gefunden“, erklärte Lois hilfreich, während Clark noch unschlüssig schwieg.
„Suicide Slum?“ fragte Perry ungläubig. „Sie haben Superman in... warte mal... ihr wollt mir doch nicht etwa erzählen, das ihr beiden diese anonyme Quelle der Polizei seid?“ Perry fiel auf seinen Stuhl, als würde er die Antwort kennen, lange bevor Lois oder Clark seinen Verdacht bestätigt hatten.
„Nun, wie das Leben so spielt, habe ich tatsächlich Henderson angerufen. Aber Clark hat Superman gefunden. Er wusste nicht, um wen es sich handelte, es war sehr dunkel dort. Als ich ihn fand, hat er mir von einem Verletzten in einer Gasse erzählt. Doch so sehr Clark sich auch bemühte, er war nicht in der Verfassung zu ihm zurück zu gelangen. Also habe ich beschlossen professionelle Hilfe zu organisieren. Wir hatten keine Ahnung wer der Verletzte war, bis Jimmy heute Morgen angerufen hat“, fasste Lois die Ereignisse der vergangenen Nacht zusammen. Clark war erleichtert, dass er nichts sagen musste. Alles was mit der Gasse zusammenhing, war in seinen Erinnerungen sehr undeutlich.
„Bei allen Hits von Elvis!“ murmelte Perry, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Das ist eine große Sache!“ Er schwieg eine Weile und schien über etwas nachzudenken. Clark musste kein erfahrener Reporter sein um zu wissen, was den Chefredakteur so beschäftigte. Der Daily Planet hatte gerade die Exklusivstory des Jahrhunderts erhalten, etwas, wonach sich alle Zeitungen der Stadt sehnen würden. “Ein Verletzter?“ fragte Perry, als er sich von seiner Überraschung halbwegs erholt hatte. „Soll... soll das heißen, dass Superman noch gelebt hat, als du ihn gefunden hast?“ brachte er hervor.
„Ich weiß es nicht“, gab Clark zu, erleichtert, dass er diesmal nicht zu lügen brauchte. Es gefiel ihm nicht besonders, vor allem wenn er an sein besonderes Talent fürs Lügen dachte. „Ich habe seinen Puls nicht gefunden. Viel konnte ich nicht tun, mir war schwindelig und mir wurde klar, dass ich ihm nicht alleine helfen konnte.“
„Du warst auch verletzt“, versuchte Lois ihn zu trösten. „Du bist es noch“, berichtigte sie.
„Hast du irgendjemanden gesehen, Junge? Kannst du dich an etwas erinnern? Hast du gesehen, wer Superman getötet hat? Gab es einen Kampf? Warst du daran beteiligt?“ Die Aussicht mehr zu erfahren beflügelte Perry offenbar. Es tat Clark leid seinen Chef enttäuschen zu müssen. Traurig schüttelte er den Kopf.
„Ich bin in dieser Gasse aufgewacht und ein Mann lag neben mir auf dem Boden. Das ist so ziemlich alles woran ich mich erinnere. Das nächste was ich weiß, ist, dass ich beinahe in Lois Wagen gelaufen wäre. Alles was dazwischen geschehen ist, liegt wie im Nebel.“ Seine Stimme war immer leiser geworden. Clark biss sich auf die Lippe. Er hatte sie gesagt, die ganze Wahrheit. Seine Lebensgeschichte war in wenigen Sätzen erzählt.
„Also hast du keine Ahnung, was vorher geschehen ist?“ Perry konnte seine Enttäuschung nur schlecht verbergen. Doch war ihm nicht klar geworden wie viel Clark eigentlich nicht wusste. Clark beließ es dabei. Er zuckte mit den Schultern, nickte und wagte es nicht mehr zu sagen. Er wusste nicht, ob seine Stimme ihn vielleicht verraten würde, wenn er noch etwas hinzufügte.
Perry kratzte sich nachdenklich am Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Vielleicht dachte er darüber nach, wie er das Beste aus dieser Situation machen konnte. Sein Blick wanderte von Lois zu Clark und wieder zurück. Keiner der beiden konnte ihm die Antworten liefern, nach denen er suchte und deshalb schwiegen sie alle. Clark fühlte sich zunehmend unwohl in Perrys Büro. Die klaren, intelligenten Augen des Chefredakteurs ließen keinen Zweifel daran, dass es nicht möglich war etwas auf Dauer vor ihm zu verbergen. Wann immer Perry ihn ansah, schien er ihn förmlich zu durchleuchten. Konnte er tatsächlich bis in sein Innerstes blicken und seine Angst spüren? Clark versuchte den Gedanken von sich zu schieben, weil Perry wohl kaum so ruhig geblieben wäre, wenn er gewusst hätte, dass etwas mit Clark nicht stimmte. Dennoch dröhnte Clarks Herzschlag in seinen Ohren bis Perry schließlich seine Hand wieder herunternahm und sich vorbeugte.
„Also gut“, sagte er heiser und atmete hörbar aus. Für einen kurzen Moment schien Perry nicht zu wissen, was er sagen sollte. Doch der Ausdruck der Hilflosigkeit blitze nur kurz in seinem Gesicht auf und verschwand dann so vollständig, als hätte es ihn nie gegeben. Dann war er zurück – der scheinbar allwissende Chefredakteur des Daily Planet. „Zu niemandem ein Wort. Die Polizei hat bisher noch nichts über ihre Quelle verlauten lassen und das werden sie auch nicht, wenn wir sie darum bitten. Versteht mich nicht falsch, ich will diese Story. Aber meine Reporter schreiben die Nachrichten, sie sind nicht Gegenstand davon. Wir können nicht vernünftig arbeiten, wenn die Leute wie die Geier um uns Kreisen und darauf warten einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der Superman gefunden hat. Und ich denke, du wirst mir darin zustimmen, Clark, dass du nicht schon wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen möchtest.“ Perry stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum, während Clark nickte und eine Zustimmung murmelte. Er hatte keine Ahnung wovon Perry eigentlich sprach, aber er hatte sicher Recht. Clark hatte keine Lust sich Kameras gegenüber zu sehen.
„Was tun wir denn jetzt?“ fragte Lois neugierig und alles an ihrer Haltung drückte aus, wie sehr sie darauf brannte endlich zu ermitteln.
„Ich möchte, dass ihr zu dieser Pressekonferenz geht. Für euch beide habe ich eine besondere Aufgabe und die ist bestimmt nicht einfach“, antwortete Perry und hielt einen Moment inne, bevor er weiter sprach. „Ich weiß wie viel Superman euch beiden bedeutet hat. Er war für uns alle wichtig, aber für euch insbesondere. Wenn ihr das Gefühl habt diese Recherche nicht objektiv durchführen zu können, dann verstehe ich das. Aber ich vertraue euch – und vielleicht auch Jimmy – mehr als jedem anderen in dieser Redaktion. Findet heraus, was in Suicide Slum geschehen ist. Findet heraus wer Superman getötet hat und warum. Hat Superman sich in letzter Zeit wirklich seltsam benommen und könnte das etwas mit seinem Tod zu tun haben? Clark, versuche dich bitte an irgendetwas zu erinnern, dass uns hilfreich sein könnte. Folgt jeder noch so kleine Spur. Ihr beiden seid die besten Reporter, die ich kenne. Bittet Jimmy um Hilfe, wenn nötig.“
Lois und Clark blickten sich überrascht an. Vor allem Lois hatte erwartet, dass sie mit Perry um diese Story ringen müsste. Sie hatte geglaubt Perry würde sie für zu befangen halten. Noch viel erstaunlicher aber war, dass er Supermans seltsames Verhalten erwähnt hatte. Das war bisher nicht mehr als ein Gefühl gewesen, ein Gefühl, dass jeder gehabt hatte, aber nichts desto trotz eben nur ein Eindruck. Normalerweise erstickte Perry jede Story im Keim, die sich nicht wenigstens auf einen echten Hinweis stützte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ein Bauchgefühl nicht als Hinweis gezählt, selbst wenn es Perrys Instinkte waren, die Alarm schlugen. Nun allerdings gab Perry sich mehr als Reporter denn als Chefredakteur. Er hatte offenbar beschlossen seinen Instinkten zu folgen.
„Nur um sicher zu gehen, dass ihr mich richtig verstanden habt. Ich möchte da draußen keine Gerüchte hören“, fuhr Perry fort und deutete erst auf die Tür zur Redaktion und dann auf das Fenster hinter sich. Es war mehr als deutlich, dass sie *niemandem* etwas erzählen sollten. „Ich möchte nicht als der Mann in Erinnerung behalten werden, der den befangensten Reportern von Metropolis die Story des Jahrhunderts anvertraut hat. Seid vorsichtig ihr beiden“, sagte er väterlich.
„Werden wir“, versicherte Lois und Clark nickte.
Er sagte jedoch nichts und Lois konnte nicht umhin zu bemerken, dass er in letzter Zeit sehr still gewesen war. Sie fragte sich, ob es nur daher kam, dass er immer noch müde war und nicht wagte sich zu beschweren. Aber sollte er nicht wissen, dass er keinen Grund hatte, Angst vor ihr zu haben? Immerhin hatte sie ihn gefunden und wusste, in welchem Zustand er gewesen war. Aber hatte sie darauf wirklich Rücksicht genommen? Lois biss sich auf die Lippen. Seit sie heute Morgen aufgewacht waren, hatte sie über so viele Dinge nachgedacht. Doch sie hatte kaum Zeit gehabt, sich um Clark Sorgen zu machen.
„Das ist dann wohl alles, denke ich“, antwortete Perry und Lois wandte sich zum Gehen. Clark folgte ihr und gerade als Lois den Raum verlassen hatte, hörte sie, wie Perry sich noch einmal räusperte. Vielleicht wollte ihr Chefredakteur nicht, dass sie zuhörte, aber Lois tat es dennoch. „Es ist schön, dich wieder bei uns zu wissen. Bitte gib gut auf Lois Acht. Ich weiß, dass ihr beide gute Freunde von Superman wart und ich kenne Lois. Sie wird sich wieder einmal Kopfüber in Gefahr stürzen, egal wie oft ich ihr sage, dass sie es nicht tun soll.“
„Clark braucht genauso sehr jemanden, der ein Auge auf ihn hat, wie ich, Perry“, betonte Lois, als sie in das Büro zurückging. Perry wurde rot und murmelte etwas Unverständliches. Bei dem Anblick musste Lois unwillkürlich grinsen. Sie hatte sich so oft darüber aufgeregt, wenn die beiden Männer den großen Beschützer heraushängen ließen. Doch heute war sie darüber gar nicht ärgerlich. Vielleicht lag es daran, dass ihr einfach nicht danach war den Aufstand zu proben, doch in Wahrheit genoss sie es einfach, dass sie Perry und Clark so viel bedeutete. „Als ich ihn gestern gefunden habe, war er in einer ziemlich schlechten Verfassung.“
„Tatsächlich?“ fragte Perry und hob eine Augenbraue. Dann schien er sich plötzlich daran zu erinnern, was Lois ihm über Clarks Verletzung erzählt hatte. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ich...äh... ich fürchte, Lois hat Recht, Perry“, gab Clark zurück. „Aber mir geht es schon viel besser.“
Perry nickte und runzelte kurz seine Stirn, begab sich dann aber zurück an seine Arbeit. Clark folgte Lois zurück in die Redaktion, als könnte er nicht schnell genug aus Perrys Büro entkommen. Hätte Lois es nicht besser gewusst, sie hätte geglaubt, dass Clarks Stirn schweißbedeckt war. Doch Clark Kent schwitzte nur, wenn es wirklich, wirklich heiß war. Also konnte das nicht sein.
Clark schwitzte tatsächlich. Nachdem er an diesem Morgen von einem wunderbaren Kuss geweckt worden war, hatte er sich mit jeder Minute, die seit dem Telefonanruf vergangen war, unwohler gefühlt. Und das lag nicht nur an seiner Seite, die mit jedem Schritt den er machte mehr schmerzte. Das war zwar unangenehm, aber auszuhalten. Wirklich schlimm war, dass er versuchte so zu tun, als sei alles in Ordnung, so gut eben, wie es nach Supermans Tod nur sein konnte. Das Problem war, dass er nicht nur ein fürchterlich schlechter Lügner war, er wollte auch gar nicht lügen. Sein Magen verkrampfte sich mit jeder Unwahrheit, die er erzählte, mehr. Vor lauter Selbstverachtung war ihm schon ganz schlecht. Er hatte versucht sich mit Halbwahrheiten durchzumogeln, die eher Viertelwahrheiten waren. Dann hatte er beschlossen lieber zu schweigen, als damit zu beginnen, die Wahrheit auch noch durch acht zu teilen.
In der Redaktion angekommen, musste Clark feststellen, dass alles nur noch schlimmer werden würde. Beinahe hatte er die Meute an Kollegen vergessen, die darauf warteten, dass er endlich eine zufrieden stellende Erklärung für sein Verschwinden liefern würde. Nachdem was Lois ihm erzählt hatte, war er vier Tage weg gewesen und hatte sich nicht krank gemeldet. Es war sinnlos nun eine plötzliche Krankheit zu erfinden. Er konnte sich sowieso nicht vorstellen, welche Erkrankung ihn vier Tage lang daran hinderte jemanden anzurufen und ihm im Anschluss dennoch erlaubte völlig gesund wiederzukehren.
Die Kollegenmeute hatte sich stark reduziert. Die meisten Neugierigen waren inzwischen dazu übergegangen Telefonate zu führen. Ihren entnervten Gesichtern nach zu urteilen verbrachten fast alle ihre Zeit in der Warteschleife. Runde um Runde lauschten sie irgendeiner Musik, die das Ohr bluten ließ und wurden dazu noch von einer weiblichen Stimme um Geduld gebeten. Jeder der geduldigen Hörer schien äußerst erpicht darauf etwas anderes zu hören. Clarks Rückkehr in die Redaktion war eine mehr als willkommene Abwechslung in dieser frustrierenden Routine. So sehr sich jeder Reporter auch danach sehnte eine gute Story zu landen, so hatten die wirklich fantastischen Geschichten nur zwei Vorteile. Sie versprachen niemals endenden Ruhm und sie verkauften sich gut. Ansonsten bedeuteten sie nichts als viel harter Arbeit gemischt mit ein paar Momenten spannender Recherchen. Dazwischen gab es langweilige Durststrecken mit Routinearbeit, denen die täglichen kleinen Redaktionsdramen erst die richte Würze gaben.
In diesem Augenblick war Clarks Erscheinen eines dieser Dramen. Den erwartungsvollen Gesichtern nach zu Urteilen, versprach es eines der besseren Dramen zu werden. Mehrere Augenpaare verfolgten jede seiner Bewegungen. Clark war fast erleichtert, als der junge Mann, der ihn zuvor so überschwänglich begrüßt hatte, ihn nun zu sich winkte. Er deutete auf den Hörer in seiner Hand um anzukündigen, dass der Anrufer mit Clark sprechen wollte.
„Hey, CK“, rief er und winkte noch einmal um sicherzugehen, dass Clark ihn auch gesehen hatte. „Er kommt jetzt, ich reiche sie weiter“, sagte er ins Telefon.
Clark ging langsam hinüber und versuchte nicht auf die vielen Blicke um ihn herum zu achten. Viele schienen enttäuscht, dass das Rätsel seines Verschwindens noch nicht gelöst werden würde. Clark hätte in ihr Seufzen einstimmen können, denn ehrlich gesagt wollte er selbst gerne wissen, warum er vier Tage lang wie vom Erdboden verschwunden gewesen war. Lois war dicht hinter ihm und gemeinsam näherten sie sich dem jungen Mann, der Clark den Hörer hinhielt. Nervosität stieg in ihm auf, als er nach dem Hörer griff.
Ein wenig ängstlich fragte sich Clark, was er nun sagen sollte. Wieder einmal fiel ihm auf, wie schlecht er darauf vorbereitet war seine eigene Rolle zu spielen. Doch was half es ihm schon, vor dem Telefon zurückzuscheuen, selbst wenn ihm deswegen der Schweiß in Strömen über die Stirn lief. Einen Moment lang dachte Clark, dass er ohnmächtig werden würde, als sein Herz in seinen Ohren pochte. Sein Mund war trocken und er war sich nicht sicher, ob ihm seine Stimme gehorchen würde. Eine Ewigkeit schien zu vergehen und Clark war von seiner eigene Angst beschämt. Wie sollte er auch erklären, warum er soviel Angst vor etwas hatte, dass er doch schon unzählige Male getan haben musste.
„Seakay“, meldete er sich heiser.
„Hier ist Henderson“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung ungeduldig und auch ein wenig verwirrt. „Ich möchte mit Ihnen und Ms. Lane über letzte Nacht in Suicide Slum sprechen. Ich erwarte Sie beide heute um drei Uhr nachmittags in meinem Büro. Keine Minute später! Ach übrigens, ich bin sehr neugierig wo sie die ganze Zeit gesteckt haben. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Krankenhäuser es in Metropolis gibt? Ich habe sie alle heute Morgen abtelefoniert, nur um zu erfahren, dass sie in keinem davon waren“, erklärte Henderson gereizt. Und bevor Clark noch etwas sagen konnte, hatte Henderson aufgelegt.
Clark hatte das Gefühl, dass gerade ein Hochgeschwindigkeitszug an ihm vorbeigerauscht war. Der Anruf war so schnell zu Ende gewesen, dass er Mühe hatte alles aufzunehmen, was Henderson gesagt hatte. Als Clark zu Lois und dem jungen Mann neben ihr hinüber blickte, sah er eine steile Falte über ihrer Nase. Ihre Stirn war gerunzelt. Seltsamerweise drückte ihre Miene nicht nur Neugier aus. Sie schien vielmehr Gefahr zu verheißen.
„CK, mh? Und ich sehe, dass du dir jetzt einen Bart wachsen lässt? Hab ich mich nicht immer beschwert, dass du zu wenig Zeit für mich hast? Sieht so aus, als hätte ich mich da geirrt!“ Der junge Mann kicherte amüsiert. Er klopfte Clark auf die Schulter, während Lois ihn mit Blicken zu töten versuchte seit er ihr ins Wort gefallen war, als sie gerade dazu angesetzt hatte, etwas zu sagen. Doch statt zusammenzuzucken, hatte er unablässig gegrinst und den Zorn in Lois’ Augen großzügig übersehen. Doch der Moment kam, in dem selbst der mutigste Mann der Welt den Kopf eingezogen hätte und dem jungen Mann ging es nicht anders. „Ich muss mal wieder zurück an die Arbeit, sonst macht Perry mich fertig. Bis später, CK!“ beeilte er sich zu sagen und war verschwunden bevor Clark noch etwas erwidern konnte.
„Was wollte Henderson?“ fragte Lois so ruhig sie nur konnte. Jimmy hatte ihr den Namen des Inspektors zugeflüstert als Clark den Anruf entgegen genommen hatte. Das war nicht die Frage, die Lois wirklich stellen wollte. Es kostete sie alle Selbstbeherrschung, die sie besaß, um Clark nicht sofort mit sich in den Konferenzraum zu zerren. Von Jimmy unterbrochen zu werden hatte ihr geholfen kühlen Kopf zu bewahren und sie wollte ihre Beherrschung nicht so schnell aufs Spiel setzten.
‚Im Zweifel für den Angeklagten’, erinnerte sich Lois und versuchte Mad Dog Lane fürs erste ruhig zu halten. Sie war es müde sauer auf Clark zu sein. Außerdem wollte sie sicher sein, dass es einen Grund gab seinen Kopf rollen zu lassen, bevor sie das Messer wetzte. Später würde sie vielleicht noch all ihren Zorn brauchen, um es ihm richtig zu geben.
„Er möchte uns um drei Uhr treffen“, antwortete Clark mit zitternder Stimme. War ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte, wenn es denn einer war? Lois war sich nicht sicher. Sie musterte sein Gesicht, versuchte das Lächeln zu finden, dass alles als einen Witz entlarven würde. Doch er war vollkommen ernst. Wieder meldete sich Mad Dog Lane zu Wort, grummelte böse über den Beweis für Clarks Verrat. Er verbarg etwas vor ihr. Dessen war sie sich niemals sicherer gewesen, als in diesem Augenblick.
„Also gut“, sagte Lois heiser und ihr Mund wurde ganz trocken, als ihr auffiel, dass sie keine Ahnung hatte, was sie nun tun sollte. Sie war es nicht gewöhnt, dass ihr die Worte fehlten. Clark hatte ihr den Beweis geliefert, dass etwas mit ihm nicht stimmte, sie hatte sogar einen Zeugen dafür. Dennoch fühlte sie sich nicht sicher genug.
Clark schwieg ebenfalls. Er schaute Lois nur an und wartete darauf, dass sie den nächsten Schritt machte. Fieberhaft dachte er darüber nach, was er als ihren nächsten Schritt vorschlagen könnte. Immerhin waren sie Partner und er konnte nicht erwarten, dass Lois alles in die Hand nehmen würde. Doch so sehr er auch grübelte, ihm fiel nicht ein, was es nun noch sinnvolles zu tun gab – mit Ausnahme einer Sache vielleicht. Er schaute sich nach einem ruhigen Plätzchen um.
„Lois“, begann Clark. „Ich muss dir etwas erzählen...“ Er legte eine Hand auf ihren Arm um sie an einen anderen Ort zu führen.
„Hey, Clark, könntest du das bitte unterschreiben?“ fragte plötzlich ein anderer junger Mann neben ihm. Clark blickte sich erschrocken um und zuckte zusammen, als nur wenige Zentimeter vor seinen Augen ein Papier auftauchte.
„Was ist das?“ wollte er wissen und nahm das Blatt. Er überflog den Text und erkannte, dass es eine Liste von Bestellungen war, die der junge Mann aufgeben wollte.
„Uns fehlen ein paar Büromaterialien und du bist der erste, der nicht wie verrückt umher rennt, also dachte ich, ich bitte dich um die Unterschrift“, erklärte sein Gegenüber und versuchte dabei Lois nicht anzusehen, die über die Unterbrechung gar nicht erfreut schien. Deshalb beeilte sich Clark das Papier zu unterschreiben und wollte sie gerade dem jungen Mann reichen, als Lois Hand plötzlich vorschnellte und sich die Liste griff. Sie starrte mit offenem Mund auf die Unterschrift und schüttete ungläubig den Kopf.
Dann erwachte Lois auf einmal aus ihrer Lähmung und stürzte auf Clark zu. Er merkte nur, dass er von zwei kräftigen Händen am Kragen gepackt wurde. Einen Moment lang glaubte Clark, dass sie ihn ohrfeigen würde. Aber stattdessen zog sie ihn mit sich in den Konferenzraum. Aller Augen waren auf sie gerichtet, als Lois ihn dazu zwang ihr zu folgen. Clark merkte, wie seine Wangen vor Scham rot anliefen. Er wusste nicht genau, was geschehen war, doch er musste sich verraten haben. Sonst wäre sie nicht so wütend auf ihn, wie es nun offenbar der Fall war. Lois schien sich nicht darum zu scheren, dass die halbe Redaktion atemlos das jüngste Drama verfolgte. Wahrscheinlich war dieser Anblick sogar noch interessanter, als alles was Clark ihnen hätte erzählen können. Alle warteten darauf, dass einer von ihnen zu schreien begann. Ein Seufzen der Enttäuschung erfüllte den Raum, als sie ihren Streit nicht vor aller Augen begannen.
~~> zum Feedback-ThreadStatistik: Verfasst von Vega — Mi 20. Jan 2010, 19:30
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