Das Familiengeheimnis (2/2)
Verzweifelt klammerte sich Jorelian an den Hals seines Vaters: „ Aber ich will nicht Superman, ich will dich!“
Wie ein Gruß aus der Vergangenheit klangen Clark diese Worte ans Ohr. Damals kamen sie von Lois, heute von ihrem gemeinsamen Sohn! Und konnte ein Kind seinem Vater etwas Schöneres sagen?
Voller Liebe drückte Clark tröstend einen Kuss auf die sorgenvoll zusammengezogene Stirn seines Nachwuchses und versuchte sie mit seinen Worten wieder zu glätten. „Jorelian Samuel Kent, es ist alles in bester Ordnung! Du und Lara, ihr braucht ganz gewiss keine Angst haben. Eure Eltern haben sich immer noch ganz doll lieb! Wir trennen uns bestimmt nicht!“
Mit einem aufbegehrendem: „Aber, aber… Superman, …ich hab`s doch gehört!“, und einem zweifelnden Blick verfolgte das Kind jede Mundbewegung seines Vaters.
Der hätte sich am liebsten die Haare gerauft! „Und hast du eigentlich schon lange geweint?“ Welch ein Rabenvater war er, dass er das nicht registriert hatte!
Jorelians Antwort beruhigte ihn etwas: „Nein, zuerst habe ich ziemlich lange überlegt, ob ich zu Lara gehen soll. Aber ich wollte nicht petzen. Dann habe ich auf dich gewartet. Und weil ich dich nicht gehört habe“, die Erzählung wurde abermals durch tiefe Schluchzer unterbrochen: „…Weil ich dich nicht gehört habe, dachte ich, du kommst gar nicht mehr nach Hause. Und da musste ich weinen. Aber ich konnte doch nicht zu Mummy, da war doch …Superman.“ Die letzten Worte hauchte er nur noch ganz leise.
Der Kummer des Kindes erschütterte Clark bis ins Mark. Was hatte er da bloß angerichtet! Konnte er nicht wie ein normaler Mann zur Haustür hereinkommen? Obwohl er in allem, auch in dieser bestimmten Angelegenheit, alles andere als normal war!
Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Mit dieser Belastung durfte er seinen Sohn jetzt nicht allein lassen. Nein, das musste wohl oder übel aufgeklärt werden.
Es war an der Zeit, das große Familiengeheimnis an seinen Nachkömmling weiterzugeben! Lois und er waren sich darin einig geworden, jeden kindlichen Zweifel sofort mit der Wahrheit zu beseitigen. Das Vertrauen zu den Eltern durfte nie enttäuscht werden.
Außerdem machte sich schon eine von den Superkräften bei dem Jungen bemerkbar. Er war weitaus schneller als gleichaltrige Kinder. Über kurz oder lang musste er sowieso über die Herkunft dieser Eigenschaft aufgeklärt werden. Dann doch lieber über kurz!
Vorsichtig löste Clark die Ärmchen von seinem Hals: „Bleib schön liegen, ich will nur etwas holen!“
Er stand auf, ging zu der weit weggeworfenen, blauroten Figur seines Alter Ego und hob sie auf. Mit ihr wollte er seine Offenbarung verknüpfen. Gedankenvoll mit etwas schweren Beinen kehrte er langsam zum Bett zurück.
Wäre diese andere, erneute Belastung nicht zu viel für den Jungen? Er war doch noch so unbedarft! Lara hatte es mit viereinhalb Jahren selber herausgefunden. Ihr war aufgefallen, dass ihr Dad immer weg war, wenn Superman Rettungseinsätze hatte. Wenn Superman die Familie besuchte, war Dad seltsamerweise immer abwesend. Nie sah man die beiden zusammen. Und die Ähnlichkeit zwischen ihnen war für ihre Augen unübersehbar. So hatte sich die Kleine alles zusammengereimt und ihre Eltern mit ihrem Wissen konfrontiert. Es war für sie auch in dem zarten Alter selbstverständlich, das Familiengeheimnis zu wahren.
Wie würde ihr Bruder diese Tatsache aufnehmen? Der schaute seinem Vater erwartungsvoll entgegen. Doch als Jorelian erkannte, was er ihm reichen wollte, verwandelte sich die Erwartung in Ablehnung. Er stieß die Hand mit der Puppe protestierend von sich: „Nein, den will ich nicht mehr!“ Der unschuldige Superman landete leider wieder auf dem Fußboden.
„Komm, rück ein Stückchen!“ Clark räumte den Flipper mit der schon dreimal reparierten Rückennaht zur Seite. Nur ganz vorsichtig und mit angezogenen Beinen konnte er sich in das 140 cm lange Kinderbett legen, neben die sich an ihn kuschelnde Gestalt.
Bang verfolgt von den dunklen Augen begann er seine Erläuterung: „Komm, Sohn, mach dir keine Sorgen! Es ist wirklich alles gut! Ich werde versuchen, dir das zu erklären! Sag mir doch mal ganz genau, warum du damals unbedingt diese Puppe haben wolltest?“
Verständnislos war der Blick, der ihn traf. Der Ton war mitleidig-belehrend: „Daddy, das müsstest du aber noch wissen! Superman hat mich so an dich erinnert, er sieht dir doch so ähnlich!“
„Ganz genau! Und warum ist das so?“, flüsterte er und drückte seinen Sprössling an sich: „Jorelian, du wirst in einem Monat sechs Jahre alt. Und weil du schon ein so großer Junge und so vernünftig bist, werde ich dir ein gewaltiges Familiengeheimnis anvertrauen. Denk doch mal richtig nach! Glaubst du wirklich, dass deine Mummy einen fremden Mann küssen und liebhaben würde und wenn er auch Superman wäre? Und was meinst du, warum du mich nicht hast heimkommen hören, wieso ich auf einmal da war? Und warum habe ich wohl dein heimliches Weinen hören können? …Na?“
Clark konnte zusehen, wie es hinter der kleinen Stirn zu arbeiten begann. Ein Spektrum von Empfindungen entfaltete sich in dem Gesicht seines Sohnes. Zuerst war es ganz verdutzt, dann überrascht und langsam dämmerte Verstehen auf. Letztendlich war die Erkenntnis da!
Mit einem lauten Jubelschrei sprang Jorelian auf und benutzte seine Matratze als Trampolin. Der Lattenrost knackte bedenklich. „…Cooooool, cooooool, …mein …Daddy …ist …!“ Hier ließ er sich einfach wieder fallen und flüsterte entzückt: „…Superman!“ Ganz fest presste er sich mit einem erlösenden Seufzer an seinen Erzeuger und bedeckte dessen Gesicht mit einigen feuchten Küsschen: „Dann ist ja alles gut! …Dad, duuu bist Superman! Dann hat Mummy diiiich ja so lieb!“ Jetzt strahlten die großen Augen vor Glück. Vor Erleichterung fiel Clark ein Riesenfels vom Herzen.
Etwas sehr Schönes musste dem Knaben in den Sinn gekommen sein. Denn dieses unwiderstehliche Lächeln, von dem Lois immer behauptete, dass er das von seinem Vater geerbt hätte, erschien auf seinem Gesicht und Supermans Sohn fragte: „Da-ad? Wann fliegst du mit mir? Werde ich das auch mal können? Zeigst du mir wie das geht?“ Clark musste herzhaft lachen. Natürlich, das Fliegen! Was denn sonst! Wie seine Mutter!
Bevor er aber antworten konnte wurde die Tür aufgerissen und genau dieser weibliche Teil der Familie Lane-Kent stand im Rahmen und schaute verständnislos auf die beiden Männer, den großen und den kleinen, die sich in dem Kinderbett köstlich amüsierten.
„Was ist denn hier los? Gibt es hier eine Pyjama-Party mitten in der Nacht?“ Lois Blick auf ihren Mann war halb erstaunt und halb vorwurfsvoll. Allerdings zuckten ihre Mundwinkel dabei sehr verdächtig. Auch Lara drängte sich herein, gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. Ihr Gesicht war eine einzige Frage, was der Schrei und das Familientreffen hier in dem Zimmer wohl zu bedeuten hätten.
Behende wie ein kleines Äffchen kletterte Jorelian über seinen Vater hinweg und war blitzschnell bei seiner Mutter. Mit beiden Armen umfing er sie in Bauchhöhe und frohlockte: „Mummy, Mummy, ich weiß jetzt, wer Superman ist!“
Aus ihrem tiefen Verständnis heraus genügte Clark nur Lois` fragender Blick, den er mit einem leichten Nicken beantwortete. Er war sich sicher, dass sie nun informiert war, weshalb er ihren Sohn zu nächtlicher Stunde über Supermans Identität hatte aufklären müssen.
Lara gähnte nochmals herzhaft. Mit der ganzen Arroganz und Überheblichkeit der um zweieinhalb Jahre älteren Schwester ließ sie verlauten: „Das hast du jetzt erst gemerkt? Ich weiß das schon lange! Und darum machst du solch ein Geschrei mitten in der Nacht? Wenn es nur das ist, kann ich ja wieder schlafen gehen! Gute Nacht!“ Sie drehte sich schwungvoll herum, dass ihr dicker brauner Zopf nur so flog. Ein königliches Winken begleitete ihren Abgang.
Die Eltern schauten ihr amüsiert hinterher. Clark konnte sich ein: „Ganz die Mutter“, nicht verkneifen, was ihm allerdings von genau derselben einen kurzen strafenden Blick eintrug, bevor sie sich wieder dem Kleinen widmete.
Immer noch verkrümmt in dem unpassenden Bett liegend konnte Clark seine Augen von diesem wunderschönen Mutter-Kind-Bild nicht abwenden. Es kam ihm wie ein Gemälde vor, nur Lois` Hand bewegte sich. Jorelian hielt seine ‚Mummy‘ immer noch ganz fest umfangen, als ob er sie nach langem Suchen endlich wiedergefunden hätte und nie mehr loslassen wollte. Mit einem nicht zu beschreibenden Ausdruck in ihrem Gesicht schaute Lois zu ihrem Sohn hinab und streichelte immer wieder seine durcheinander gewirbelten Haare.
Clark schnürte es die Kehle zu. Wie liebte er diese Frau und wie stark war sie! Ihre Liebe und diese seelische Stärke hatten ihm das Leben ermöglicht, von dem er geträumt hatte, als er damals nach Metropolis gekommen war.
Ihm wurde wieder einmal bewusst, dass seine Berufung für die Welt ein Segen sein mochte, aber sie war es nicht für ihn und seine Familie. Wie oft musste er Lois die ganze Verantwortung aufbürden und sie in manch heikler Situation allein lassen. Doch das war ihr schon vor der Heirat durchaus bewusst gewesen und sie hatte es in Kauf genommen. Sie war damals schon so stark, seine Lois, damals schon und sie war immer stärker geworden. Clark war sich sicher, dass die Kinder diese Kraft von ihr mit der Muttermilch eingesogen hatten. Wie anders hätte Jorelian denn diese überwältigende Neuigkeit akzeptieren und verkraften können?
Und diese starke Frau schaute ihn nun auffordernd ohne Worte an. Er verstand sie auch so. Gespielt ächzend erhob sich der Familienvater aus der ungemütlichen Lage und hielt sich das Kreuz. „Es wird höchste Zeit, Sohn, dass du ein großes Bett bekommst. Oh, mir tut alles weh, ich muss unbedingt wieder in mein eigenes. Und wir müssen alle endlich schlafen. Die Nacht ist ja bald vorbei.“
Lois schob ihm leicht seinen Sohn zu. Sanft nahm er das Kind hoch und legte es auf das Ruhelager: „Guck mal, deine Kameraden sind schon so müde! Und wenn du morgen ausgeschlafen hast, werden wir dir eine supertolle Geschichte von einem viel kleineren Jungen erzählen. Sie ist tatsächlich wahr und sie wird dir sehr gefallen. Darin kommt sogar vor, woher du deinen außergewöhnlichen Namen hast! Und fliegen werden wir beide auch bald! Fest versprochen! Gute Nacht, Großer, schlaf schön!“
Die besorgte Mutter deckte den Kleinsten der Familie behutsam zu, nicht ohne ihn nochmals zärtlich zu streicheln und eine Bestätigung einzuholen: „Ist jetzt alles wieder in Ordnung, Jory? Wirst du schlafen können? Wenn nicht, du weißt...!“
Das strahlende Gesicht beantwortete schon die erste Frage. Kleine schmatzende Gute-Nacht-Küsschen verteilte der Held in spe an seine sich über ihn beugenden Eltern und teilte ihnen großspurig mit: „Jetzt kann ich bestimmt schlafen. Sonst komm ich zu euch! Gute Nacht, Mummy! Daddy!“
Clark legte seinen Arm um seine Frau und ging mit ihr zur Tür hinaus. Über die Schulter zurückschauend sah und hörte er, wie sein Sohn die vorhin zweimal verschmähte, blaurot gewandete Puppe schnell aufhob, sie an sich drückte und ihr glücklich lächelnd zuflüsterte: „Sorry, war wirklich nicht so gemeint. Und jetzt hab ich dich doch noch viel, viel lieber!“
E N D EStatistik: Verfasst von Gelis — Di 12. Apr 2011, 21:25
]]>