Amy McReary hätte niemals geglaubt, dass es für irgendjemanden interessant sein könnte, sie zu entführen.
Natürlich las man viel - sie war ja nicht ganz auf den Kopf gefallen, auch, wenn ihr Verlobter, Ed, ihr mehr als einmal vorgeworfen hatte, dass sie manchmal zu naiv war und oft einfach zu blauäugig an das Gute im Menschne glaubte anstatt die Dinge vernünftig zu hinterfragen. Dennoch, auch, wenn sie mehr als einmal Abends, wenn sie nach Hause kam, erst einmal durch das Haus lief um sicherzugehen, dass kein dunkler Fremder mit einer Axt in irgendeiner Ecke darauf wartete, über sie herzufallen, so hatte sie niemals wirklich daran geglaubt, dass dies auch nur ansatzweise eine Option sein könnte. Dass tatsächlich einmal nicht ein, sondern mehrere dunkle Fremde, ihr auflauern und über sie herfallen konnten und das nicht Nachts in ihrem Haus oder in einer dunklen Gasse sondern, soweit sie sich erinnern konnte, mitten am hellichten Nachmittag in einer vielbefahrenen Straße.
Das mit dem Erinnern, das war ein weiteres Problem. Amy versuchte erneut, sich aufzusetzen, doch dieses Vorhaben scheiterte an ihrem schmerzenden Kopf und sie entschied sich dafür, diesen ehrgeizigen Plan noch etwas zu verschieben und weiterhin einfach ruhig auf dem kalten Boden zu bleiben. Dem kalten Boden ihrer - Zelle? War es eine Zelle? Das würde sich auch klären, sobald sie die Augen länger als zehn Sekunden aufhalten und den Kopf vielleicht ein klein wenig drehen konnte. Jetzt sah sie lediglich eine leicht flackernde Lampe weit weit oben an der Decke wenn sie die Augen öffnete.
Hatte man sie entführt? Nein, sie doch sicherlich nicht. Immerhin hielt sie sich, im Gegensatz zu ihrem Bruder Timothy, vornehm zurück. Ja, ihre Eltern waren reich. Verdammt reich. Und ja, ihr Vater hatte seine Finger in Geschäften, von denen Amy nicht einmal ansatzweise etwas wissen wollte, aber Timothy war der McReary Spross, der sich lächelnd zeigte, wenn es darum ging der versammelten Presse zu erklären, dass ihr Vater erneut mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus lag und er jetzt die Zügel in die Hand nehmen wollte. Timothy ging zu Golf-Turnieren für wohltätige Zwecke und Timothy war mit seiner Ehefrau - wenn der Anlass es ermöglichte auch mit den beiden natürlich bestens erzogenen Kindern - auf den Filmpremieren und Galas die man besuchen musste. Es war auch Timothy, der irgendwann alles endgültig übernehmen würde, natürlich erst, wenn ihr Vater losließ. Und daran glaubte, außer Timothy, keiner. Nicht einmal Amy. Richard McReary würde sie alle überleben, wie es aussah, standen seine Chancen Amy zu überleben in diesem Moment besser denn je. Dieser düstere Gedanke ließ ein kleines Lächeln auf ihren Lippen erscheinen. Wenigstens hatte Timothy dann kein Erbe, um dass er sich streiten musste und die Chance auf ihrer Beerdigung in die Kameras zu weinen und erschüttert zu sein.
Nicht, dass Amy ihren Bruder nicht mochte, er war nur anders und er erkannte manchmal die Grenzen zwischen dem Privatleben und dem, was man für die Öffentlichkeit tat, nicht ganz. Und wenn die Leute das gemerkt hätten, wenn die Leute das wüssten, dann würden sie Timothy McReary mit anderen Augen sehen.
War es überhaupt bekannt, dass sie tatsächlich mit dieser Familie in Verbindung stand? Ja, wahrscheinlich schon. Natürlich, wenn man sich mit ihnen beschäftigte, würde man schnell über Amy stolpern, die zwar niemals direkt mit der Firma zu tun hatte oder mit den Geschäften. Amy, die zwar in den pompösen Penthäusern und Wohnungen groß geworden war, die als kleines Mädchen mehr als einmal auf offiziellen Familienfotos in die Kamera gelächelt hatte, die aber dann, mit sechzehn Jahren, auf ein Internat geschickt worden war und anschließend im Ausland studiert hatte um dann zwar wiederzukommen, aber bei ihrer Familie nicht mehr ein und auszugehen als jeder Bedienstete den sie hatten. Amy, über die bis zu ihrem 22. Lebensjahr noch ab und an diverse Meldungen auftauchten, allerdings nicht in den Wirtschaftsmagazinen sondern eher in den Gossip-Heftchen, die sich mit den weniger wichtigen aber dennoch weltbewegenden Themen auseinandersetzten. Sie war zu dünn, sie war zu dick, sie war schwanger, sie hatte Affären mit Männern, die sie nichtmal kannte, sie war verlobt und doch wieder nicht und ganz davon ab, konnte und sollte eine hübsche Frau wie sie die noch dazu reich war Single sein? Amy kam es manchmal vor, als hätte sie schon zwanzig Leben gelebt, von denen nur eins wirklich existierte, die anderen verhaftet in der öffentlichen Wahrnehmung aber nicht in der Realität. Ja, sie hatte das mit dem Heiraten lange vor sich hergeschoben. Wobei "lange" auch relativ war - immerhin war sie nun gerade mal 28 und seit bereits über einem Jahr mit Ed verlobt. Also soweit gar kein echtes Drama. Und ja, sie hatte sich lange in der Welt herumgetrieben weil sie einfach nicht sicher gewesen war, was sie wirklich wollte. Und was sie wirklich wollte, das wusste sie mittlerweile auch noch nicht - aber, und das war seit ein paar Wochen neu, sie hatte begriffen, dass das nicht immer wichtig war und dass sie Ed wahrscheinlich nicht wollte. Genau das hätte sie diesem auch in den nächsten Tagen mitteilen wollen. Jetzt würde er das vielleicht niemals erfahren.
Stimmte es, dass sie hübsch war? Vielleicht, aber sicherlich nicht in diesem Moment und auch nicht morgens nach dem Aufwachen. Sie war schlank, sie war sportlich, sie ging jeden Morgen laufen und sie liebte ausgefallene Kleidung. Ihr Haar hatte sie erst letzte Woche geschnitten - wo es bis dahin noch tiefschwarz und lang gewesen war, hatte sie es jetzt so kurz wie nur möglich abschneiden lassen. Wie nannte man das? Einen Bubi-Kopf? Irgendwie hatte es etwas befreiendes gehabt, der erste wichtige Schritt sozusagen. Die meisten ihrer Freunde hatten diese neue Frisur gehasst. Ed hatte die Frisur gehasst, aber das nicht gesagt, natürlich nicht, das traute er sich nicht. Ihre beste Freundin, Mia, hatte es gut gefunden. Es würde ihre Gesichtszüge mehr zur Geltung bringen, ihre Wangenknochen und auch ihre grünen Augen mehr hervorheben, die würden jetzt größer wirken.
Was immer...für Amy war es keine optische Entscheidung gewesen sondern mehr als das. Man konnte sagen, was man wollte, aber eine Frau schnitt sich nicht grundlos einfach die Haare ab.
Sie entschied, dass sie immer noch darüber nachdenken konnte, warum genau sie hier war, sie musste hier raus. Positiv denken. Was war positiv? Bisher war noch niemand gekommen. Sie war nicht verletzt, nur ihr Kopf schmerzte, aber soweit sie es beurteilen konnte war der Rest ihres Körpers unversehr. Oder war das der Schockmoment? Damit hatte sie sich in ihrem Medizin-Studium doch auseinandergesetzt...? Nein, die Kopfschmerzen verhinderten weiteres nachdenken. Soweit sie das beurteilen konnte war sie in Ordnung, sie war okay. Sie musste nur ihre Augen aufkriegen.
Eins.
Zwei.
Drei.
Es tat weh, es tat wirklich weh, aber Amy schaffte es, in das flackernde Licht zu starren bis ihre Pupillen ihren Dienst taten und sich entsprechend verengten. Dann sah sie an sich herunter und stellte fest, dass sie wenigstens nicht blutete, also war ihre Vermutung soweit richtig gewesen. Zudem hatte sie sich gestern ziemlich normal angezogen - enge Jeans, ein schwarzes T-Shirt, wo ihre Lederjacke geblieben war, das wusste sie nicht, und knallrote Pumps. Letztere waren nicht unbedingt das beste Fußwerk für Fluchtaktionen aber daran wollte sie sich jetzt nicht aufhängen. Positiv denken.
Jetzt musste sie nur noch...vorsichtig winkelte sie ihre Ellenbogen an, hob ihren Oberkörper leicht und sah sich, nach wie vor blinzelnd, um.